Arbeit mit Kindern

Von dem kleinen Kind sieht man nur ein rundes Babygesicht mit Augen. Ansonsten ist der ganze Körper von den Füßen bis über den Kopf straff in Tücher eingewickelt. Bewegen kann sich das Kind nicht. Herumtollen, mit den Armen rudern und strampeln geht auch nicht. Das kleine Mädchen ist sechs Monate alt und hat bislang ihr ganzes Dasein als handlich zusammen geschnürtes Paket auf dem Arm ihrer Mutter verlebt. Dies ist ganz normal in der Mongolei. Nicht nur vor Kälte geschützt werden die Babys durch die dicken Stoffkokons. Außerdem wird auch verhindert, dass die kleinen selbstständig werden; zumindest wird es hinausgezögert, solange es möglich ist.
Mehr als befremdlich klingt das für deutsche Ohren, wenn man davon spricht, Kinder bewusst unselbstständig zu halten. Denn nach dem Gegenteil streben wir doch schließlich alle. Als zentrales Ziel ihrer Erziehung geben die Hälfte aller deutschen Selbstständigkeit an. Dies hat bei der Arbeit mit Kindern oberste Priorität. Bei der Arbeit mit Kindern steht dieses Ziel also ganz oben mit immensem Vorsprung vor Verantwortungsbewusstsein, Toleranz, Höflichkeit und Kontaktfreudigkeit.

Doch nicht immer war bei der Arbeit mit Kindern die Zustimmung der Deutschen zum Erziehungsziel Selbstständigkeit und freier Wille prioritär. Sie lag in den fünfziger Jahren noch bei vergleichsweise mickrigen 28%. Gleichauf lag bei der Arbeit mit Kindern Gehorsam und Unterordnung. Zum Bestärken der kindlichen Autonomie, weg von der Idee, dass Kinder vor allem eines können müssen: sich anpassen und nicht weiter auffallen, ging die Schere bei der Arbeit mit Kindern seither auseinander. Dies ist eine revolutionäre Trendwende in der Erziehung und der Arbeit mit Kindern, da Eltern, die selbst noch mit autoritärem Drill erzogen wurden, in ihrem Kind plötzlich ein Gegenüber mit einem legitimen Grundbedürfnis nach Respekt, Nähe und Liebe sehen. Plötzlich ist das Kind eine individuelle Persönlichkeit und kein beliebig formbares Objekt. Man kann es auch philosophisch ausdrücken: das Kind ist ein Selbst. Dieses Selbst soll sich nun entfalten und entwickeln und dem Kind jede Menge Eigenschaften vermitteln, die alle mit der Vorsilbe “selbst” beginnen: Selbstwertgefühl, Selbstverwirklichung, Selbstkritik, Selbstvertrauen, Selbstverantwortlichkeit, Selbstbewusstsein und natürlich Selbstständigkeit. Dies klingt doch nach einer deutlichen Verbesserung für die Kinder. Doch auch die Gefahr, die Kinder kolossal zu überfordern birgt der Boom ums Selbst in sich.

Kinder sind natürlich auch schon Individuen. Aber sie sind auch kleine Herdentiere. Diese brauchen eine Gemeinschaft, die ihnen hilft und sie trägt. Die sie unterstützt in ihren Versuchen, immer mehr selbst zu machen. Aber trotzdem ihnen nicht das Gefühl gibt und nicht von Ihnen verlangt, ohne sie auszukommen. Die totale Unabhängigkeit von anderen Menschen würde 100-prozentige Selbstständigkeit bedeuten. Es wären Kinder, die niemanden brauchen, außer sich selbst, die völlig autark sind. Diese Vorstellung ist doch unheimlich.

Stellt sich also die Frage, wie viel Selbstständigkeit bei der Arbeit mit Kindern gesund ist. Diese Frage wird von einer mongolischen Mutter natürlich ganz anders beantwortet als von der deutschen Mutter. Soziologen sehen in den unterschiedlichen Menschenbildern verschiedener Kulturen den Grund dafür. Zwei verschiedene Familienmodelle unterscheidet der türkische Familienforscher und Psychologe Cigdem Kagitcibasi. Das Menschenbild der Independenz beziehungsweise der Unabhängigkeit liegt in den USA, Deutschland und anderen westlichen Industrienationen vor. Grundsätzlich werden dort Menschen als autonome Individuen betrachtet, deren Lebensziel die Selbstverwirklichung ist. Der Lieblingssatz “Das kann ich allein” soll hier sooft wie möglich fallen.
Vorrangig als Mitglied einer Gemeinschaft sieht das Modell der Interdependenz (abhängig voneinander) hingegen den Menschen in den traditionellen Dorfgemeinschaften in weiten Teilen Südamerikas, Afrikas oder Asiens. Das Lebensziel besteht dort darin, sich in Dorfgemeinschaft und Familie zu integrieren. Hier heißt der Lieblings Satz: “Wir schaffen das zusammen”.

Dass ihre Kinder bei der Arbeit mit Kindern sehr schnell unabhängig und selbstverantwortlich werden, dies sehen in die independent geprägten Eltern als ihre Aufgabe an. Die Kinder sollen lernen, nicht zu weinen, wenn Vater oder Mutter aus dem Zimmer gehen, sich allein zu beschäftigen, sich selbst zu beruhigen, allein ein- und früh durch zu schlafen.
Dagegen besteht das Ziel interdependent orientierter Eltern darin, dass ihre Kinder bei der Arbeit mit Kindern schnell in die familiäre Gemeinschaft integriert werden und harmonische Beziehungen leben können. Babys und Kleinkinder keinen Moment des Alleinseins abzuverlangen, sie nach Bedarf zu stillen, bei sich schlafen zu lassen und sie sogar Tag und Nacht am Körper zu tragen – dies ist für diese Eltern bei der Arbeit mit Kindern normal.
Dass in Kulturen, die weniger Selbstständigkeit im Erwachsenenleben fordern, man Babys auch nicht dazu erziehen müsse, könnte man nun behaupten. Dass die Kinder trotzdem selbstständig werden, ist hierbei aber der Clou. Sie fordern einen eigenen Schlafplatz ein, wollen nicht mehr getragen werden und stillen sich ab. Sie gründen irgendwann eine eigene Familie, schließen eigene Freundschaften und wagen sich hinaus in die weite Welt. Sie übernehmen Verantwortung für andere und sorgen dabei auch gut für sich selbst. Genauso ist dies im Lexikon für den Begriff Selbstständigkeit definiert.

Dass die simple Formel “Je früher desto besser” in Sachen Selbstständigkeit zu kurz greift, zeigt dies. “Alles zu seiner Zeit” wäre die bessere Maxime. Kagitcibasi fasst die Ergebnisse seiner Forschung so zusammen, dass Kinder weder Abhärtung noch Training brauchen, um selbstständig zu werden. Sie brauchen dazu lediglich die Befriedigung ihrer Grundbedürfnisse: immer autonomer zu werden und zu wachsen. Und dies, gleichzeitig eine ganz enge Verbindung aufrechtzuerhalten.
Zunächst heißt dies konkret, dass man bei der Arbeit mit Kindern keine Angst vor dem Verwöhnen haben sollte. Vor allen Dingen nicht im ersten Halbjahr. Von beiden Seiten klappt später das Loslassen besser, je enger und vertrauensvoller die Beziehung zwischen Eltern und ihrem Baby ist – so paradox dies klingen mag.
Indem man sich beispielsweise den Stamm der Ewe in Togo zum Vorbild nimmt, kann man dies exerzieren. Dass Mutter und Kind gleich nach der Geburt einen Pakt schließen, dafür sorgt die Hebamme. Mit einem Stückchen Nabelschnur tupft sie auf Brust und Stirn von beiden und sagt dann: “Mutter, wenn du dein Kind weinen hörst, dann antworte! Kind, wenn deine Mutter dich ruft, dann antworte!” Im Umkehrschluss heißt dies, dass man keine Experimente dahin gehend machen sollte, ob ein schreiendes Baby nicht auch von selber wieder ruhig wird, wenn man nur lange genug wartet. Dass Kinder von Eltern, die in den ersten Lebensmonaten sofort auf Weinen reagieren und trösten, später sprachgewandter, fröhlicher und aufgeschlossener sind als ihre Altersgenossen, welche dieses Glück nicht hatten, zeigen Studien. Und nicht zufällig sind sie auch noch selbstständiger.
Nur wenn man ihnen nicht die Flügel stutzt, geht das. Irgendwann verliert derjenige die Lust am Lernen, der dauernd hörte: “Lass